Forschungsprojekt unterstützt mit dem Förderungsstipendiums 2004 der Hans-Sigrist-Stiftung
Kurzbeschreibung
D’Annunzios Fiume als Labor des Faschismus?
Mit der Ausschreibung des Förderungsstipendiums 2004 im Bereich der «Historischen Politologie: politische Geschichte im Spannungsfeld von Anthropologie, ‹politischer Theologie›, Sozial- und Politikwissenschaften» beabsichtigt die Hans-Sigrist-Stiftung, Forschungen zu fördern, die sich der methodischen Erneuerung und Ausweitung einer als «innovationsresistent» geltenden «Politischen Geschichte» widmen sollen. Tatsächlich scheint die Zeit reif für eine Rückgewinnung der analytischen Kategorie des «Politischen» in der Geschichtswissenschaft. Selbst Geschichte und Gesellschaft, die im deutschsprachigen Raum «kanonische» Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft versucht seit einigen Jahren, die von ihr lange Zeit ausgeblendete Dimension des «Politischen» qua Kulturgeschichte in ihr Blickfeld zu bekommen. Der Begriff «Historische Politologie» geht auf ein Postgraduiertenkolloquium (WS 1998/99) von Prof. Dr. Peter Blickle zurück und hat sich in der Forschung bislang (noch) nicht etabliert, vielleicht bloss deswegen, weil dadurch eine nicht genügend grosse disziplinäre Identifikation gestiftet wird. Die methodische Absicht hingegen, die dahinter steht und die man als «Politisch-Historische Sozialwissenschaft» umschreiben könnte, dürfte in der Tat als eines der grössten Forschungsdesiderata der modernen Geschichtswissenschaft gelten. Die latente Gefahr besteht allerdings, wie dies seit den 1970er Jahren deutlich geworden ist, in einer Diskrepanz bis hin zu einer fast vollständigen Alienation zwischen theoretisch und empirisch ausgerichteten Forschungsansätzen, wie beispielsweise die Debatten um Hyden Whites «linguistische Wende» gezeigt haben. Dass eine fruchtbare Synthese zwischen «klassischen» und «modernen» Ansätzen, sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht, durchaus möglich ist, habe ich bereits im Rahmen eines NFP-42 Projektes zu zeigen versucht, mit einer Studie auf dem Gebiet der Aussenpolitik, einem ureigenen Gebiet der «Politischen Geschichte», bei welcher, dank Ansätzen aus der Politikwissenschaft und der Forschung der Internationalen Beziehungen, klassische diplomatiegeschichtliche Quellen methodisch neu seriell und unter Anwendung quantitativer Analysen angegangen worden sind, ohne dabei die unbestrittenen hermeneutischen Vorzüge der Geschichtswissenschaft zu verlieren. Von absolut zentraler Bedeutung ist aber m.E., dass in allen geschichtswissenschaftlichen Forschungen stets die empirische Tauglichkeit theoretischer Überlegungen im Vordergrund steht. Im vorliegenden Projekt wird der Versuch unternommen, dies anhand der exemplarischen Untersuchung der Geschichte von Fiume an der Schnittstelle zwischen Nationalismus und Faschismus empirisch zu überprüfen.
Der Fall Fiume zwischen Nationalismus und Faschismus
1919/1920 besetzte der italienische Dichter und Kriegsheld Gabriele D’Annunzio die mit der Annexion Istriens durch Italien nun an den Grenzen des Reiches liegende Stadt Fiume (heute Rijeka in Kroatien). Die italienischsprachige Bevölkerungsmehrheit hatte sich bereits im Oktober 1918, beim Zerfall Österreich-Ungarns, in einem italienischen Nationalrat konstituiert und mit dem legitimationsstiftenden Argument des von Lenin und Wilson soeben verkündeten Selbstbestimmungsrechts der Völker den Anschluss an das italienische Reich proklamiert. Die Frage von Fiume bildete in der Folge einen der kontroversesten Punkte der Pariser Friedensverhandlungen, die zum Eklat führte, dass die italienische Delegation die Konferenz zeitweise verliess. D’Annunzios Experiment als erster Duce endete im Dezember 1920, als die reguläre italienische Armee ihn aus der Stadt bombte. Danach wurde Fiume zur Freistadt erklärt (wie Danzig); 1924 wurde sie – nach einem Ausgleich zwischen dem inzwischen unter faschistische Herrschaft geratenen Italien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen – von Italien annektiert und musste schliesslich nach dem Zweiten Weltkrieg, zusammen mit Istrien, an Jugoslawien abgetreten werden.
D’Annunzios Wirken in Fiume ist in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzen als Wegbereiter einer eigenen Theologie der Nation, einer effektvollen Liturgie zur Mobilisierung der Massen und dem eigentlichen Streben nach Transzendenz, Elemente, die in der Folge vom Faschismus aufgenommen und «erfolgreich» durchgesetzt werden konnten.
Forschungsstand
D’Annunzios Abenteuer in Fiume schlug bereits in der zeitgenössischen Berichterstattung hohe Wellen und ist in einer Vielzahl von Publikationen mehr oder weniger breit episch beschrieben. Eine nähere Analyse dieser reichhaltigen, mehrheitlich zeitgenössischen Produktion zeigt aber überraschenderweise, dass sich darunter kaum historisch fundierte Arbeiten befinden. Die Literatur kann grob in Memoirenliteratur (ehemalige beteiligte Legionäre), pamphletartige nationalistisch aufgeladene Publikationen und, aus akademischer Warte, Studien aus literaturwissenschaftlicher Perspektive eingeteilt werden. Es überrascht noch mehr, dass von den wenigen ernst zu nehmenden geschichtswissenschaftlichen Studien (z.B. De Felice , Ledeen , Perfetti ) bislang keine die Archive der Stadt Fiume systematisch aufgearbeitet hat. Der Grund dafür liegt primär in der komplexen Archivsituation, da nach dem Zweiten Weltkrieg wesentliche Teile der Bestände nach Italien abtransportiert wurden (und heute in einem privaten Stiftungsarchiv konserviert werden), während die in Rijeka zurückgebliebenen Akten in der jugoslawischen Periode von der neuen nationalstaatlichen Historiographie explizit ausgeblendet und westlichen Historikern nicht ohne Probleme gänzlich freigegeben wurden. Die nun nach den politischen Umwälzungen der 1990er Jahre eingetretene Entspannung auf dem Balkan ermöglicht endlich, erstmals diese Bestände in ihrer Gesamtheit zu überblicken und zu studieren.
Ansatz und theoretische Situierung
In Abgrenzung bisheriger literaturwissenschaftlicher Ansätze, welche die Figur D’Annunzios primär in der Kategorie des «Dichters» untersuchten, beabsichtigt die Studie, eine Reihe von Fragestellungen zu entwickeln, die, unter dem Fokus der «politischen Religionen», die Geschichte der italienischsprachigen Bevölkerung von Fiume nach dem Zerfall des habsburgischen Vielvölkerstaates im nationalistisch-protofaschistischen Kontext beleuchten. Dabei kann neu mit wechselndem Fokus auf die Beziehung zwischen «befreiter» Bevölkerung und ihrem «Kommandanten», dessen «Konstruktion der Nation» und auf politische Rituale eingegangen werden, welche die Stadt in dieser Zeit wahrlich in ein Experimentierfeld der Moderne transformierten (Gleichstellung der Geschlechter, sexuelle Freizügigkeit, Futurismus, Kunst, Sozialgesetzgebung, etc.), das von der These eines Labors des Faschismus her angegangen wird. Durch die bislang in ihrer Gesamtheit nie untersuchten Aktenbestände der Stadt Fiume kann man am Konzept der politischen Religionen endlich auch die Perspektive von «unten» testen und somit tatsächlich das Wechselverhältnis von «oben» und «unten», das zur modernen Auffassung von «Politik» führte, erfassen. In diesem Sinne bietet die Perspektive des paradigmatischen Falles Fiume als Labor des Faschismus durchaus auch das Potenzial für Ergänzungen und Korrekturen an Emilio Gentiles Konzept der politischen Religionen , insbesondere beim Übergang von Nationalismus und Faschismus, der im Rahmen des Projekts ausgehend von den klassischen Ansätzen der angelsächsischen politikwissenschaftlichen Ausrichtung des «integralen Nationalismus» (der «Gründungsväter» der Nationalismusforschung Carlton Hayes , Hans Kohn , Louis Leo Snyder ) weiter geführt und an die generellen Forschungskonzepte von George L. Mosse angeschlossen wird (nach einem bahnbrechenden Aufsatz konnte Mosse, wohl der damals aussichtslosen Quellensituation wegen, seine Fiume-Forschungen nicht weiterentwickeln). Die breitere Öffnung des hier vorgeschlagenen Ansatzes dürfte ferner die «Blindflecken» selektiver anthropologischer und kulturwissenschaftlicher Analysen aufdecken, die, wie die übrigens sehr inspirierende Studie von Claudia Salaris , die untersuchten Phänomene in der Tradition der literaturwissenschaftlichen D’Annunzio-Forschung zu reduktiv und schliesslich etwas apologetisch als kunstvolles und intellektuelles «Fest der Revolution» interpretieren. In der Tat bieten aber bereits vorläufige Resultate aus den ersten Archivsondierungen tiefe Einblicke (z.B. in den zahlreichen Polizeirapporten und Überwachungsberichten) in eine protofaschistische bürgerliche Gesellschaft, die, nach (der bislang in der Forschung kaum diskutierten) Entfernung des nichtitalienischen slawischen Elements, bereits deutliche Zeichen (totale Überwachung, Verfolgung von Dissidenten, Vertreibung etc.) der sich später entwickelnden totalitären Regime aufwies.
Die Studie, die mit wechselnder Perspektive zwischen der Makro- und der Mikroebene arbeitet, versteht sich als ein Beitrag zur Nationalismus- und Faschismusforschung, der im Rahmen der Totalitarismus-Forschung entlang den Fragestellungen zu den «politischen Religionen» politikwissenschaftliche, kulturgeschichtliche und mentalitätsgeschichtliche Ansätze fruchtbar zu verbinden trachtet.