Ostern ist bekanntlich ein beweglicher Feiertag und fällt auf den Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond, dieses Jahr auf den 27. März. An Ostern feiern die Christen die Auferstehung des nach den Berichten der vier biblischen Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes drei Tage zuvor, an Karfreitag, am Kreuz gestorbenen Jesus Christus. Mit der Formel des «solus Christus» stellte die protestantische Reformation Jesus und seinen Leidensweg ins Zentrum der Theologie, womit der Karfreitag zum höchsten Fest des Kirchenjahres wurde. Gefeiert wurde das Fest in der lutherischen Liturgie mit der Predigt, dem Gebet und liturgischen Gesängen, insbesondere in Form von Chorälen, die, weil sie die meisten Leute sonst nicht verstanden hätten, aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt worden waren. Dieses Jahr fiel der Karfreitag auf den 25. März. Im Jahr 1727 kam er auf den 11. April zu liegen, 1729 ein paar Tage später, auf den 15. April. Aber wozu diese kalendarischen Kapriolen?
Nun, Johann Sebastian Bach, eines der grössten Genies der Musikgeschichte, kam 1723 nach Leipzig, um das Amt des Thomaskantors anzunehmen. Zu seinen Aufgaben gehörte der Musikunterricht wie auch die Komposition von Werken für die zwei Hauptkirchen von Leipzig. Mit unermüdlicher und begnadeter Schaffenskraft komponierte Bach zahlreiche Kantaten für das ganze Kirchenjahr der lutherischen Liturgie. Nach langer Zeit herrschender Auffassung wurde die Matthäus-Passion – das Meisterwerk der geistlichen Musik für Solostimmen, Doppelchor und Doppelorchester – am Karfreitag des Jahres 1729 in der Thomaskirche uraufgeführt. Erst 1950 stiegen Zweifel an der Datierung des Werkes auf: während Untersuchungen zur Neuausgabe der Bachwerke wurde ein auf die Jahre 1726–1727 zu datierendes Fragment entdeckt, welches eineinhalb Takte einer Arie aus der Matthäus-Passion enthielt. Weitere Hinweise, die in Zusammenhang mit den von Bach verwendeten Texten des Librettisten Picander stehen, lassen die meisten der Bachexperten heute darauf schliessen, dass die Uraufführung von Bachs grösster Passion auf den Karfreitag des Jahres 1727 datiert werden muss.
Viel mehr als die Auseinandersetzung um die Datierung interessiert die Liebhaber von guter Musik aber, dass sie in der Osterzeit regelmässig mit verschiedenen Aufführungen der Bach-Passionen beglückt werden. Vorvorletztes Jahr hatte die Schweiz das Privileg, zwei der grössten Maestri der Barockmusik empfangen zu dürfen: am 22. März Sir John Eliot Gardiner in Luzern mit der Johannes-Passion und am 30. März Philippe Herreweghe in Zürich mit der Matthäus-Passion. Das Publikum hat sie mit stürmischen Standing Ovations belohnt.
Kaum zu glauben, dass diese Meisterwerke der Musik nach Bachs Tod in Vergessenheit gerieten und erst hundert Jahre später wieder entdeckt wurden.
[Datum der Erstausstrahlung: Radiotelevisione Svizzera RSI, Rete Due, 9. April 2013, 07:05 Uhr]