«Bereits in meinem Bericht vom 18. November habe ich über die Möglichkeit der Ankunft einer grösseren Anzahl SS im Veltlin informiert […] Es sind Säuberungsaktionen gegen die Partisanen im Gang. Diese Aktionen schreiten von Süd nach Nord vor […] was erklärt, wieso sich Partisanen ins Bergell geflüchtet haben». Dies schrieb
der Informant mit dem Decknamen «Acqua» genau vor 75 Jahren, am 3. Dezember 1944, ans «Bureau Bernina» des Nachrichtendienstes der Schweizer Armee.
1943, als «Acqua» seine Spionagetätigkeit aufgenommen hatte, war er ein 48-jähriger verheirateter Mann aus Campascio mit drei Kindern zwischen zwei und acht Jahren, ein promovierter Chemiker mit Studium an der Universität Bern, der in der Armee Dienst als Sanitätskorporal leistete. Als Besitzer von Rebbergen im Veltlin kannte «Acqua» die Grenzregion sehr gut und trotz des Krieges unterhielt er häufige Kontakte mit seinen Angestellten im Veltlin. «Acqua» besass also das perfekte Profil für die Spionage im Grenzgebiet. Weil er fliessend Deutsch sprach, war es ihm zudem möglich, mit den im Veltlin stationierten Soldaten und Offizieren der Wehrmacht in Beziehung zu treten. «Acquas» Berichte für das «Bureau Bernina» sind in einem präzisen Deutsch geschrieben, er formulierte in der Regel knapp und ohne Kommentare. Zur Hauptsache enthalten die Rapporte genaue militärische Informationen zu den Truppenbeständen, ihren Stationierungen und Verschiebungen, ihrer Bewaffnung und zu den Festungsarbeiten und Aktionen gegen die Partisanen.
In den mehr als hundert Berichten von «Acqua» zeigt sich eine Sichtweise der Schweiz auf die Endphase des Krieges an der italienischen Front. Das geteilte und besetzte Italien wurde vom privilegierten Beobachtungsposten des ans Veltlin grenzenden Puschlavs aus betrachtet. Die Untersuchung von «Acquas» Rapporten legt ein komplexes Kaleidoskop von Interessen frei, die auf grossartige Weise in ein Parallelogramm von divergierenden Kräften eingeflochten sind: Der patriotische Geist des Bürgers in schwierigen Zeiten, das Interesse des Staates an einem engmaschigen Nachrichtendienst, das Interesse des Sanitätskorporals, sich vom verdriesslichen Aktivdienst dispensieren zu lassen, die Interessen des Händlers, die Kontakte mit seinen Angestellten in Italien aufrecht zu erhalten und eine anhaltende Produktion in den Rebbergen sicherzustellen, und nicht zuletzt das Interesse daran, die Versorgungslage im Puschlav zu verbessern. Im Unterschied zur «grossen» Spionage könnten wir dieses bisher wenig bekannte Phänomen «Milizspionage» nennen. Tatsächlich wurde diese Spionagetätigkeit im Dienstbüchlein des Schweizersoldaten säuberlich als Diensttage abgerechnet.
«Acqua» war mein Grossvater Plinio Zala, Jahrgang 1895. Sein mit «Acqua» und «Congedi 1943» betitelter Ordner tauchte nach seinem Tod unter zahlreichen Lagen von Papier und Dingen auf, die man in Familien findet, die seit Generationen das selbe Haus bewohnen. Er kann heute im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern frei eingesehen werden.
[Datum der Erstausstrahlung: Radiotelevisione Svizzera RSI, Rete Due, 3. Dezember 2014, 07:05 Uhr]