In diesen Tagen des Oktobers, im Jahr 1874, gründeten die Vertreter von 22 Ländern im Rathaus zum Äusseren Stand in Bern den Weltpostverein. Zusammen mit dem Internationalen Telegraphenverein von 1865 und dem Zentralamt für den internationalen Eisenbahnverkehr von 1893 gehört der Weltpostverein zu den ersten internationalen Organisationen. Der Vertrag von Bern vom 9. Oktober 1874 koordinierte und regelte den Briefversand zwischen den Gründerländern – und heute in der ganzen Welt – und bereitete so dem unübersichtlichen Wirrwarr von nationalen Postsystemen und -tarifen ein Ende. Für die Standardisierung der internationalen Dienstleistungen war dies ein solch bedeutender Meilenstein, dass noch heute alljährlich am 9. Oktober der Welttag der Post gefeiert wird.
Es ist bestimmt kein Zufall, dass alle bereits erwähnten internationalen Organisationen ihren Sitz in der Schweiz hatten und bis heute noch haben. Die Schweiz wurde, wie ein Bundesrat mit gutem Grund bemerkte, zu einer Art moralischem und intellektuellem Epizentrum der globalen internationalen Beziehungen. Es war jedoch nicht nur die Rhetorik der guten Dienstleistungen und der Förderung der internationalen Zusammenarbeit, welche die Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem der drei grössten internationalen Zentren machte. Der Schweiz ging es auch und vor allem darum, wichtige Eigeninteressen zu verfolgen. Der Telegraph stand damals – ähnlich wie heute das Internet – für ein weltumspannendes Netz zum Austausch von Informationen. Es versteht sich fast von selbst, dass über Macht verfügte, wer auf die Festlegung der Kommunikationsstandards Einfluss nehmen konnte. Die Schweiz verfolgte eine Strategie, die ihr mit der aktiven Teilnahme an internationalen Kongressen und Organisationen ein starkes Instrument der Aussenpolitik lieferte. Der Weltpostverein wurde zum Beispiel seit seiner Gründung im Jahr 1874 bis 1966 immer von einem Schweizer geführt. Oft handelte es sich um ehemalige Bundesräte wie Eugène Borel, Eugène Ruffy oder Camille Decoppet, die das Amt des Direktors bis zu ihrem Tode ausübten. Nach 1966 konnte sich die Schweiz dieses Monopol nicht mehr sichern, die Direktoren waren nicht einmal mehr Europäer.
Das Neutralitätsparadigma, durch den globalen Zweiten Weltkrieg gestärkt und im Kalten Krieg als absoluten Mythos emporstilisiert, veranlasste die Schweiz dazu, sich einzuigeln und ausserhalb der Organisation der Vereinten Nationen zu stehen. Die erfolgreichen Strategien, mit deren Hilfe sie sich immer wieder ins Zentrum der Welt stellen konnte, gab sie auf. Wir dürften uns daher nicht allzu sehr wundern, wenn die Schweiz heute in der Staatenwelt oft ein wenig einsam ist.
[Datum der Erstausstrahlung: Radiotelevisione Svizzera RSI, Rete Due, 23. Oktober 2012, 07:05 Uhr]