Gedenktage mit Festen, Staatsakten und Ansprachen gehören zur politischen Liturgie jedes Staates. Die runden Daten des Dezimalsystems, so die Hundertjahrfeiern, besitzen ihre eigene mathematische Ästhetik und einen hohen Grad an politischer Attraktivität. Vor fünf Jahren zum Beispiel gedachten wir des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren, und überall widerhallte das Getöse und Donnern der Kanonen, welche die Welt zwischen 1914 und 1918 erschütterten. Die Historiker sind, um ehrlich zu sein, nicht ganz unschuldig, wenn es darum geht, das Business mit den Jahrestagen in Gang zu halten. Seit dem 19. Jahrhundert waren sie an der Erfindung der Tradition stark beteiligt und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur Bildung der neuen Nationen. Wir dürfen uns daher nicht wundern, dass die erste Gedenkfeier zur Gründung der Schweiz von 1291 im Jahre 1891 stattfand, aus Anlass des angenommenen sechshundertsten Jahrs ihres Bestehens. Die Feierlichkeiten kamen wie gerufen, um die Gräben zu überbrücken, die dem jungen Bundesstaat von 1848 nach dem Bürgerkrieg immer noch schwer zu schaffen machten.
Am 8. Februar 2014, in der allgemeinen Euphorie der Olympischen Spiele, lancierte Bundespräsident Didier Burkhalter in Sotschi offiziell die Gedenkfeiern zum 200-jährigen Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland. Das damalige prorussische Klima stellte für diesen – mehr oder weniger mutmasslichen – zweihundertsten Jahrestag erfolgreiche Entwicklungen in Aussicht, Hoffnungen, die sich wenige Wochen später mit Russlands Annexion der Krim verflüchtigten sollten. Das Etikett der zweihundertjährigen diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland fiel nicht nur in eine politisch ungünstige Zeit, sondern warf in geschichtlicher Hinsicht auch verschiedene Fragezeichen auf. Die Bezeichnung weckt tatsächlich den Eindruck von Kontinuität einer Geschichte, die jedoch turbulent verlief und sich durch grosse Krisen und Unbeständigkeit auszeichnete. Als Folge der Entwicklungen nach der Oktoberrevolution brach der Bundesrat 1918 die diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion ab. 1934, als die sowjetische Diplomatie die Aufnahme in den Völkerbund beantragte, hielt Bundesrat Giuseppe Motta allen Neutralitätsprinzipien zum Trotz eine flammende Rede gegen den kommunistischen Staat. Die Beziehungen zwischen den zwei Ländern kamen nun gänzlich zum Erliegen, was sich während des Zweiten Weltkriegs als schwere Hypothek für die Schweiz erwies. Die diplomatischen Beziehungen wurden erst im März 1946, nachdem die Schweiz ihr Bedauern über ihr Verhalten ausgedrückt hatte, wieder aufgenommen. Von den «200 Jahren diplomatische Beziehungen» müssten als logische Konsequenz also 28 Jahre ohne Beziehungen abgezogen werden. Allerdings steht die Schweiz bei den kühnen Berechnungen und Kalkulationen von Jahrestagen nicht alleine da: Im Jahre 1950 feierte die Stadt Oslo mit einer Gedenkbriefmarke der norwegischen Post ihr 900-jähriges Bestehen, während die Stadt fünfzig Jahre später, im Jahr 2000, bereits den 1000. Jahrestag begehen konnte. Scheinbar bescherten neue archäologische Beweise den feiernden Norwegern eine fulminante Beschleunigung der Zeit.
[Datum der Erstausstrahlung: Radiotelevisione Svizzera RSI, Rete Due, 27. Mai 2014, 07:05 Uhr]