Vor 30 Jahren fiel der 9. Oktober auf einen Montag. Wie jeden Montag seit dem 4. September 1989, als an die tausend Personen gegen das kommunistische Regime der Deutschen Demokratischen Republik protestierten, fand in Leipzig eine sogenannte «Montagsdemonstration» statt. In Anwesenheit von mehreren Potentaten des kommunistischen Blocks war, am Wochenende des 7. Oktobers in Berlin, das vierzigjährige Bestehen des kommunistischen Deutschland mit einer martialischen Militärparade gefeiert worden. Der Jubel des Volkes galt aber nicht den Repräsentanten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, sondern dem sowjetischen Führer Michail Gorbatschow, der drei Jahre zuvor unter dem Schlagwort Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umstrukturierung) eine Reformpolitik eingeleitet hatte. In einem Interview mit der Presse gab er eine Erklärung ab, die – zusammengefasst in der Formel «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben» – in den Medien der ganzen Welt widerhallte.
Am darauffolgenden Montag – am erwähnten 9. Oktober – waren es mehr als 70’000 Personen, die den Sicherheitskräften Ostdeutschlands auf friedliche Weise die Stirn boten. Im Unterschied zu den früheren Kundgebungen konnte die Polizei angesichts dieser Menschenmasse nicht mehr eingreifen. Die Demonstranten, die im Sprechchor Parolen wie «Wir sind das Volk» riefen, forderten das Recht auf freie Meinungsäusserung und politische Reformen. Eine Woche später zählte man bereits 120’000 Personen, die aus ganz Ostdeutschland eintrafen und sich in Leipzig versammelten. Es waren in erster Linie diese «Montagsdemonstrationen», die der «Friedlichen Revolution» des Herbstes 1989 Gestalt verliehen. Die grosse Unzufriedenheit des Volkes zwang eine Woche später den ostdeutschen Führer Erich Honecker zurückzutreten. Wieder an einem Montag, am 6. November, geschah es dann, dass die Mauer von Berlin, Symbol und Realität der Trennung zwischen Ost und West, unter der Menge der Demonstranten zerbröckelte. Der Fall der Mauer bezeichnet das Ende des Kalten Krieges und ging 1989 als tiefe Zäsur in die Geschichte ein.
Die Demonstranten, welche im Chor «Wir sind das Volk» skandiert hatten, konnten nun «Wir sind ein Volk» rufen.
[Datum der Erstausstrahlung: Radiotelevisione Svizzera RSI, Rete Due, 09. Oktober 2012, 07:05 Uhr]